Enkel
Es war keine Absicht. Das ist Liv klar, ändert jedoch nichts daran, dass sie hier raus muss, und zwar sofort. Die leere Halle ist zu eng für sie und das Grinsen des Holländers, den sein Missgeschick zu amüsieren scheint.Als ob es ein Witz wäre, die Verstärker kurzzuschließen und sie beide der Gefahr eines Stromschlags auszusetzen, ganz zu schweigen vom möglichen Schaden an der teuren Anlage.
»Ich wusste nicht, dass auf der Leitung schon Saft ist«, sagt er und kann oder will nicht aufhören zu grinsen. Er scheint nicht zu begreifen, wie viel Beherrschung es Liv kostet, sich abzuwenden und ihn stehen zu lassen, die Hände in den Jackentaschen zu Fäusten geballt. Sonst würde er ihr nicht noch hinter herrufen: »Hey, Engel, bleib doch mal stehen!«
Idiot.Alles Idioten um sie herum. Machen ihr das Leben schwer und lachen sich eins. Unwillkürlich hält Livden Atem an. Der Weg nach draußen kommt ihr unerträglich lang vor, zumal nirgendwo etwas herumliegt, wogegen man jetzt treten könnte. Stattdessen blanker Fabrikboden, das Hallen ihrer Schritte und im Hintergrund verhaltenes Gelächter. Erst als sie den Ausgang erreicht und ein feuchtkalter Luftzug ihre Wangen kühlt, schnappt sie nach Sauerstoff, aufrichtig bemüht, sich zu beruhigen.
Im Gewölk des Atlantiktiefs, das seit Wochen über dem Norden festhängt, sucht sie vergeblich nach einem Streifen Himmelblau. Wenigstens regnet es nicht mehr. Kaum hat sich ihr Atem normalisiert, denkt Liv wieder an den Holländer, an seinen Hang zur Nachlässigkeit, und verspürt Lust, die Reifen an seinem museumsreifen Ford Taunus zu zerstechen. Sie sollte ein paar Schritte gehen. Vielleicht auch viele Schritte.
Sie zieht die Kapuze auf und stapft los, Blick nach unten, um mit ihren ausgetretenen Chucks nicht in eine der Pfützen zu treten. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich auf dem Fabrikgelände nasse Füße holt. Ein kräftiger Schauer, und der ganze Vorhof steht unter Wasser, dann geht ohne Gummistiefel gar nichts mehr.
Ihren Großvater bemerkt sie auf diese Weise erst, als sie beinahe mit ihm zusammenstößt. Tönges im marineblauen Trainingsanzug, der noch aus den Achtzigern stammen dürfte, drahtig und fast einen halben Kopf kleiner als sie, das struppige graue Haar regennass. Neben ihm steht sein Fahrrad.
»Was treibst du dich denn hier rum?« Normalerweise hat sie bessere Manieren.Aber sie fühlt sich, als hätte er sie bei irgendetwas Schändlichem ertappt, und geht automatisch in die Offensive.
Tönges antwortet nicht, und weil Liv sich wegen ihres Tonfalls sofort schämt, fügt sie hinzu: »Bei dem Wetter, meinte ich. Du holst dir ja sonst was.« Als wäre er nicht zäher als sämtliche Mitglieder der Familie Engel zusammen. Sie hat ihren Großvater niemals krank erlebt.
Da er keine Anstalten macht, mit ihr zu reden oder sie wenigstens anzusehen, folgt Liv seinem Blick, und eine Weile stehen sie nebeneinander und betrachten, was von den Lübecker Metallhüttenwerken zu Herrenwyk, einst größter Arbeitgeber der Region, die Jahrtausendwende überdauert hat: das fünfstöckige Fabrikgebäude aus der Gründerzeit – ein Stahlskelett, versteckt hinter einer Backsteinfassade –, ein Hochofen und der Kühlturm aus Stahlbeton. Im Sommer wird hier planes Bauland auf neue Glücksritter warten und nichts mehr an die Produktion von Koks und Roheisen erinnern. Sofern Liv als Sprengmeisterin gute Arbeit abliefert, und daran besteht nicht der geringste Zweifel.
»Hast du dich eingekriegt?«, fragt Tönges schließlich.
»Ja«, sagt sie und stellt erleichtert fest, dass es stimmt.
»Schönen Auftrag habt ihr euch da unter den Nagel gerissen.«
Liv nickt nicht ohne Stolz. Es war keine Selbstverständlichkeit. Dass Engel Sprengtechnik in Lübeck ansässig ist, mag geholfen haben. Um die zahlreichen Mitbewerber aus dem Feld zu drängen, musste sie trotzdem ein überzeugendes Konzept vorlegen, was heutzutage vor allem heißt, sparsam zu kalkulieren.
»Wie viel?«, fragt Tönges, und als sie ihm die Summe nennt, bescheiden aufgerundet, verziehter nicht wie erwartet das Gesicht, sondern sagt bloß: »Gut gemacht.«
»Danke schön.« Livs Freude über das Lob ist ebenso groß wie ihr Erstaunen, und plötzlich verspürt sie Lust, Tönges zu fragen, ob er für das Projekt noch einmal in die Firma zurückkehren will. Sie könnten Seite an Seite arbeiten wie früher, halbe Nächte lang in Berechnungen und staubige alte Baurisse vertieft. Kaffee, Zigarettenrauch und langes Schweigen, das nicht trennt, sondern eint und dann und wann, weit nach Mitternacht, in ein gutes Gespräch über alles und nichts münden kann, aber nicht muss. Sentimentales Wunschdenken.Als hätte es die schwierige Zeit vor seinem Ausscheiden nicht gegeben. Zuletzt hatten sie, gelinde gesagt, genug voneinander, seine Qualmerei ging ihr auf die Nerven, er störte sich an dem Kaffeegeruch, seit er selbst keinen mehr trank. Was schlimmer war: Mit den Jahren hatten die fachlichen Querelen zugenommen, nicht zuletzt weil Tönges modernen Sprengstoffen und Zündmechanismen misstraute, sich hartnäckig weigerte, Computer in die Arbeit einzubeziehen, und ihr jedes Mal Eitelkeit unterstellte, wenn sie wegen einer spektakulären Großsprengung ein Fernsehinterview gab.Ausgerechnet ihr. Irgendwann war klar, dass einer von ihnen gehen musste. Und dass es nicht sie sein würde.
Livs Stellvertreter Volker Sanders, angeheuert noch von Tönges vor mehr als fünfzehn Jahren, gesellt sich zu ihnen und wird vom Firmengründer per Handschlag begrüßt. In der Linken trägt er eine Tasche mit Schlagzeugzubehör: Becken, Pedal, Drumsticks. Wie auf Verabredung fällt kein Wort über den Auftrag oder die Firma. Stattdessen Geschwafel über das laut Tönges zu milde Februarwetter, bis Liv gähnt.
»Ich muss dann wieder«, sagt Tönges.
»Willst du nicht mit reinkommen und die Jungs begrüßen?«
»Keine Zeit.«
Früher war er ein besserer Lügner. Seine Durchschaubarkeit lässt Liv stellvertretend für ihren Großvater erröten, während Volker Verständnis heuchelt, anscheinend erleichtert über die Aussicht, den Senior so schnell wieder loszuwerden: »Immer auf Achse, was?«
Vielleicht ist er auch nur höflich.
»Muss ja.« Tönges klopft auf den Sattel seines Fahrrads. Ein Tourenrad mit diversen Schikanen,das er sich extra für den Ruhestand zugelegt hat. »Damit komme ich mehr rum als je mit dem Auto.«
»Gut, gut«, sagt Volker. »Das hält fit. Dann gute Fahrt.«
Was für eine Farce.
Als sie wieder unter sich sind, blafft Tönges sie an: »Macht ihr etwa immer noch diesen Quatsch?«
Er sieht so aus, als würde er tatsächlich eine Antwort erwarten, reine Bissigkeit, er weiß genau Bescheid. Der Quatsch ist die Musik. Kaum war Tönges weg aus der Firma, hat sie mit einigen der Kollegen eine Band aufgebaut. Ihr Neuzugang, der Holländer, hat seinen Job unter anderem deshalb bekommen, weil er im Lebenslauf unter »Hobbys« angab, Gitarre zu spielen. Für den Abend ist ein Konzert geplant. Tönges hält nichts von der Sache,das war keine Überraschung für Liv. Sie wünschte nur, sie könnte ihm vermitteln, wieviel das Singen ihr bedeutet.
»Wie sollen die Jungs kapieren, dass du der Boss bist, wenn du ständig nach Feierabend mit denen rumkasperst?«
»Sie kapieren es eben«, sagt Liv, obschon sie denkt, dass ihr Großvater nicht ganz unrecht hat. Man kommt sich näher, Grenzen verwischen. Wenn sie singt – und nur dann –, macht es ihr nichts aus, verletzlich zu sein, es gehört einfach mit dazu. Seither gerät manchmal auch auf der Baustelle der Umgang vertraulicher, als ihr lieb ist. Damit muss sie wohl leben. Es ärgert sie, dass Tönges ihr nicht zutraut, die Dinge unter Kontrolle zu halten. Wie viele Beweise wird er noch brauchen, bis er endlich an sie glaubt und darauf vertraut, dass sein Lebenswerk bei ihr sicher ist? Sicherer jedenfalls, als es bei seinem Sohn Utz, Livs Vater, gewesen wäre. Nicht, dass der jemals Interesse gezeigt hätte, die Firma zu übernehmen.
»Hör mal, ich wollte mir eigentlich gerade die Beine vertreten. Kommst du mit?«, fragt Liv in der Annahme, er würde sich daraufhin verabschieden und davon radeln.
Aber er nickt.Also setzen sie sich in Bewegung. Tönges schiebt sein Rad neben ihr her, sein Schweigen vom rhythmischen Klickern der Gangschaltung unterlegt.
Die Fabrik liegt in Sichtweite der Trave. Liv schlägt den Weg zum Fluss ein, der schnell fließt, als würde er von ihnen nichts wissen wollen und hätte es deshalb eiliger als sonst, die Mündung zu erreichen, was sie gut verstehen könnte. Sie wäre jetzt auch gern am Meer. Obgleich sie die Nähe der Ostsee schmeckt, das Aroma von Seegras, die Schärfe der anlandenden Algen, fühlt Liv sich auf seltsame Weise heimwehkrank. Dabei ist dies ihre Stadt.
Was tröstet,ist der Blick auf den emsigen Fluss. Das Wasser hat die Farbe des Winterhimmels angenommen. Eisgrau. Um zum Uferweg zugelangen, müssen sie einen Abhang überwinden. Rutschige Erde, die an den Schuhen haften bleibt, ein Trampelpfad im Gebüsch. Liv geht vorweg, schlittert abwärts, Tönges im Gefolge.Als sie sich umdreht, um zu sehen,ob er Hilfe benötigt, kommt es ihr geradezu provozierend vor, wie mühelos er sein Fahrrad und sich selbst ausbalanciert, ohne auch nur einmal zu straucheln. Unten sind noch Bahngleise zu überqueren, dahinter erstreckt sich der Uferweg kilometerweit.
Liv stapft vorwärts ohne Rücksicht auf Pfützen, Wasser spritzt auf, der gelbe Kies knirscht nass unter ihren Sohlen. Es ist kälter geworden, nur noch fünf Grad höchstens, und während die Feuchtigkeit durch ihre Kleidung dringt, überlegt sie, wie er es fertiggebracht hat, achtundsiebzig Jahre alt zu werden, ohne je Schwäche zu zeigen. Sie ist noch keine vierzig, und an manchen Tagen macht es ihr schon zu schaffen, dass sie nicht in der Lage ist, ihren Weltschmerz mit jemandem zu teilen.An Tagen wie diesem. Wenn sie selbst nichtweiß, warum sie so aufgebracht und zugleich so müde ist.
Sie sind vielleicht fünf Minuten gegangen, da empfindet Liv die Anwesenheit ihres Großvaters plötzlich nicht mehr als anstrengend, eigentlich ist sie sogar froh, in Gesellschaft zu sein, und sie macht eine nette Bemerkung über sein Fahrrad, weil sie weiß, wie viel Überwindung es ihn gekostet hat, bei einer Anschaffung in eigener Sache ausnahmsweise nicht aufs Geld zu achten, verschwenderisch zu sein. Er schildert ihr die Funktionsweise der Gangschaltung, nicht zum ersten Mal. Sie lenkt das Gespräch auf seine Ausfahrten. Es scheint ihm tatsächlich zu gefallen, zu jeder Jahreszeit unterwegs zu sein, ziellos, dem Wetter ausgeliefert. Hauptsache, nicht zu Hause bei Henny hocken. Man müsse mal eine längere Tour planen, nicht immer bloß Runden drehen.Als Liv ihn fragt, ob er die Firma sehr vermisse, winkt er ab, aber seine Geste hat etwas Trotziges, und sie ist wieder kurz davor, ihn einzuladen, die Herrenwyk-Sprengung mit ihr gemeinsam vorzubereiten. Doch sie hält den Mund. Er könnte es falsch verstehen, als Almosen.
Sie legen eine Pause ein.Aus dem Fahrradkorb fördert Tönges Proviant zutage: eine Thermoskanne und ein Paket Haferkekse, verstaut in einem Leinenbeutel der Stadtbibliothek. Er gießt für sie ein und reicht Liv den dampfenden Becher. Kaffee.
»Bist du durch mit deiner Teephase?«, fragt sie mit hochgezogenen Brauen.
Er nickt. Sie setzen sich jeder auf einen Findling am Flussufer, ein paar Meter voneinander entfernt. Es hat wieder angefangen zu nieseln. Tönges müht sich mit der Keksverpackung, schließlich gebraucht er sein Taschenmesser, um die Plastikfolie zu entfernen. Er trägt es immer bei sich, ein Laguiole-Hirtenmesser aus Frankreich, ein Schmuckstück. Damaststahl. Als sie jung war, hat Liv eine Weile darauf spekuliert, dass er es ihr irgendwann schenken würde, seiner Nachfolgerin, dem einzigen seiner Enkelkinder, mit dem er je etwas hatte anfangen können. Doch Schenken war nie sein Metier.
»Bist du immer noch hinter dem Messer her?«, fragt Tönges, der ihren Blick bemerkt hat.
Schulterzucken.
»Weißt du was? Du kannst es haben. Du solltest es ohnehin irgendwann bekommen. Warum nicht heute?«
Er will ihr das Messer reichen, aber Liv protestiert. Sicher will sie es haben, aber nicht so nebenbei, mit den Augen erbettelt wie ein Hund einen Bissen Fleisch vom Tisch. DerAugenblick sollte etwas Feierliches haben.
»Nun nimm schon.«
»Du brauchst es doch selbst.«
»Ich hab noch ein anderes. Nimm.«
Sie gehorcht widerwillig, wissend, dass er nicht nachgeben wird. »Danke.«
»Gern geschehen. Ich hatte mal eine Schwester, die hat es mir geschenkt. Sie hat auch so gern gesungen wie du«, sagt Tönges unvermittelt und steckt sich einen Haferkeks in den Mund, bevor er ihr die geöffnete Packung hinhält.
»Eine Schwester?«, fragt Liv, formt das Wort extra deutlich, überzeugt, sich verhört zu haben. Sie hat Tönges stets für ein Einzelkind gehalten. Von Geschwistern war nie die Rede.
»Ja.«
Er wedelt einladend mit der Packung, obgleich er doch sehen müsste, dass sie für einen Keks keine Hand frei hat, links den Kaffee, rechts das Messer. Sie betrachtet das Markenzeichen auf dem Laguiole, eine geschmiedete Jakobsmuschel, streicht mit dem Daumen über das glatte Buchsbaumholz des Griffs und hat keinen Schimmer, was sie sagen soll. Das Geschenk einer Schwester. Typisch für Tönges, die Bedeutung einer derartigen Mitteilung durch Beiläufigkeit zu verschleiern. Falls sie überhaupt Bedeutung für ihn hat.
»Du hast nie von ihr gesprochen.«
Keine Antwort, er kaut. Das Gebäck kracht zwischen seinen Zähnen. Liv nippt am Kaffee und reicht den Becher anschließend ihm, da sie nur den einen haben.
»Was wurde aus ihr?«
Tönges zuckt mit den Schultern und trinkt einen Schluck. »Ist lange her«, sagt er dann, als wäre das eine Antwort. Nachfrage zwecklos, Liv kennt ihn gut genug, um das zu akzeptieren, auch wenn sie liebend gern mehr erfahren würde über eine Schwester des Großvaters, die gern gesungen hat. Es kommt selten genug vor, dass sie Gemeinsamkeiten zwischen sich und einem Mitglied der Familie Engel feststellt. Abgesehen von Tönges ist ihr die eigene Verwandtschaft fremd, und der Gedanke an eine potenzielle Verbündete gefällt ihr. Was natürlich lächerlich ist.Als ob eine einzige geteilte Vorliebe sie zu Freundinnen gemacht hätte.
»Verfluchter Regen«, sagt Tönges und bietet ihr noch einmal Kaffee an.Als sie ablehnt, steht er auf und spült den Becher in der Trave aus, den Blick starr auf die trüben Fluten gerichtet.
»Was gibt’s da zu sehen?«
»Eine Haifischflosse, wenn mich nicht alles täuscht.« »In der Trave?«
»In der Ostsee gibt es Heringshaie.«
»Hier doch nicht.« Liv schaut auf den Fluss. Die Oberfläche ist schiefergrau und wellig, einige harmlose Strudel kreisen in Ufernähe. Sie kann beim besten Willen keine Flosse entdecken und unterstellt ein Ablenkungsmanöver seinerseits, aus Angst, Liv könnte doch noch Fragen zu dieser Schwester stellen. Hat sie nicht vor. Sie legt den Kopf in den Nacken und blinzelt in den feinen Staub aus Wassertröpfchen. Wie unbezwingbar Wasser doch ist im Vergleich zu Beton. Haifisch müsste man sein.
»Da ist nichts.«
»Dann sehe ich wohl Gespenster«, sagt Tönges und verstaut Kekse und Thermoskanne wieder im Leinenbeutel.
Als sie sich verabschieden, ignoriert sie das Bedürfnis, ihn zum Konzert einzuladen, und hat dann für den Rest des Nachmittags das Gefühl, eine Gelegenheit verpasst zu haben.
Der Enkel ist verändert. Fritzi sieht es auf den ersten Blick. Wie er die Tür seines Geländewagens zuschlägt, wie er sich hält, sein Gang – nichts stimmt mehr,wo vorher alles gestimmt hat. Er bemerkt, dass sie in der Tür steht, winkt, ein Winken wie zum Abschied, obwohl er eben erst angekommen ist.
Zur Begrüßung ein flüchtiger Kuss auf die Wange, dafür muss er sich tief zu ihr herunterbeugen,und eine gut gemeinte Ermahnung: »Warum bleibst du denn nicht drinnen, Amma mín? Du holst dir den Tod bei der Kälte.«
Als ob sie nicht wüsste, wann sie friert, nur weil sie alt ist. Sie hat schon lange nicht mehr gefroren. »Das bisschen Frost«,sagt sie mit der Verachtung einer Frau, die dem Winter unzählige Male die Stirn geboten hat, und zwar unter weitaus härteren Bedingungen, als sie im Eingang ihres zentral geheizten Hauses vorzufinden sind.
In der Küche verblasst die Veränderung. Während sie Kaffee einschenkt und sich mit der Verpackung des Hafergebäcks aus dem Supermarkt abmüht, betrachtet sie den Enkel genau und entdeckt nichts an ihm außer Unbekümmertheit und Kraft. EinenAugenblick erliegt sie der Illusion, sich geirrt zu haben. Bis ihr bewusst wird, dass in einem makellos blauen Himmel die Sonne im Zenit gestanden hat, als sie ihn aus dem Auto steigen sah. Und es ist warm gewesen. Viel wärmer als an diesem grauen Tag im Februar. Ein Schwarm Seeschwalben flog landeinwärts über das Lavafeld. Sie erreichen die isländische Küste im Mai, frühestens im April. Was mit ihm geschehen ist, passiert erst noch, steht bevor und ist doch in einer anderen Wirklichkeit bereits vollzogen.
Ihre Freundin Bjarney, die sich darauf versteht, mit Elfen zu plaudern, hat es ihr erklärt: Es gibt keine Zukunft, keine Vergangenheit, nur das Jetzt.Alles geschieht gleichzeitig.Alles ist Gegenwart.
»Hast du nichts Selbstgebackenes?« Der Enkel nimmt einen Haferkeks aus der Packung und taucht ihn in den dampfenden Kaffee.
»Nein, zum Backen bin ich nicht gekommen.«
Alles ist Gegenwart. Ganz begreift Fritzi nicht, was Bjarney damit meint. Vielleicht versucht sie deshalb, das Unabwendbare zu verhindern. Denn sie spürt, es ist ihre Schuld, wie es gekommen ist. Kommen wird. Sie hat den Enkel um einen Gefallen gebeten, einen großen Gefallen, zum ersten Mal überhaupt. Obschon er Bedenken vortrug, die gut begründet waren, hat er ihr den Wunsch nicht abschlagen können.
»Die Reise, von der ich neulich gesprochen habe ...«
Er lässt sie nicht ausreden. »Gleich nach Ostern geht es los, wie versprochen. Tut mir leid, früher schaffe ich es nicht. Zu viel zu tun.«
»Ich habe es mir anders überlegt. Es wäre mir lieber, wenn du nicht fliegst. Ich habe mich geirrt.Ich will es nicht. Es ist zu spät.« Sie trinkt mit zittriger Hand. Der Kaffee ist ihr etwas zu dünn geraten.
»Es ist nie zu spät.« Er sagt es leichthin, ohne nachzudenken. In seinem Alter müsste er eigentlich wissen, wie oft es im Leben für irgendetwas zu spät ist.
»Doch.«
Er fängt ihren Blick ein und hält ihn mit seinen schwarzen Augen fest. »Amma, du hast bloß Angst. Warst du nicht diejenige, die mir beigebracht hat, Entscheidungen niemals aus Angst zu treffen? Mach dir keine Sorgen. Es ist nicht zu spät. Du tust das Richtige, und ich helfe dir dabei. Nach Ostern fliege ich.«
Er lenkt ab,redet über das Wetter, das in diesem Land immer ein abendfüllendes Thema ist. Die vielen Schneestürme seit Weihnachten, dazwischen kurze Perioden mit Regen und frühlingshaften Temperaturen.Und über seinen Beruf redet er. Detail verliebt. Heute bereitet es Fritzi Mühe, zuzuhören, so wie ihm das Reden mehr Mühe als sonst bereitet.Er tut es für sie, weil er glaubt, sie aufmuntern zu müssen. Dabei isst er einen Keks nach dem anderen. Er ist ein guter Junge.
Sie lässt den Kaffee stehen und tritt ans Fenster.Auf der schwarzen Lava hat sich der Schnee der vergangenen Nacht zu Eis verhärtet, dazwischen das Moos in einem übernatürlichen Grün. Das graue Meer ist aufgewühlt.Trotzdem kann sie in dem Gewirr aus sich aufbäumenden und brechenden Wogen das metallische Schimmern mehrerer Haifischflossen ausmachen, und sie stößt einen kurzen Schrei aus.
Der Enkel springt auf und hastet an ihre Seite. »Was ist?«
Sie deutet auf die Bucht. »Haie.«
»Kann vorkommen, um diese Jahreszeit.«
»Siehst du sie?«
Er schaut konzentriert. »Nein.Aber es ist normal, dass da Haie sind.«
Sie ist den Tränen nah. »Das sind die Gefährten vom Móri, dem Braunen. Immer wenn Haie in die Bucht schwimmen, führt er wieder etwas im Schilde.«
»Ach, Amma.« Er legt einen Arm um sie und geleitet sie ins Wohnzimmer, drückt sie mit sanfter Gewalt auf das Sofa und setzt sich dazu, hält ihre Hand. »Du und deine Geister. Willst du nicht endlich in die Stadt ziehen?«
Minuten vergehen. Ihm zuliebe denkt Fritzi darüber nach. Sie in der Stadt in einer dieser neuen Wohnanlagen mit riesigen Fenstern zur Bucht. Seniorentanztee. Lange Flure, Handläufe an den Wänden, hinter den Türen das Lärmen der Fernsehapparate. Was soll sie dort? Freunde finden? Sie hatte nie einen Hang zur Geselligkeit.
Das stete Rauschen des Nordatlantiks wächst zu einem Donnergrollen heran.Als sie in seinem Alter war, hat sie auch nicht an Geister geglaubt.